Wenn Pferde Brücken bauen

Schon im 18. Jahrhundert erkannte der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc: „Wenn der Mensch je eine große Eroberung gemacht hat, so ist es die, dass er das Pferd zum Freunde gewonnen hat“. Wie richtig dieser Satz ist, wird bei der Arbeit mit Therapiepferden in der Behindertenarbeit ganz besonders deutlich.

„Sage es mir, und ich vergesse es. Zeige es mir, und ich behalte es. Lass‘ es mich tun, und ich verstehe es“. Diese weisen Worte des chinesischen Philosophen Laotse beschreiben sehr gut den Leitgedanken, der den vielseitigen Möglichkeiten des therapeutischen Reitens zugrunde liegt. Sei es in der pferdegestützten Physiotherapie, der Ergotherapie, der Heilpädagogik, der Traumapädagogik oder der Psychotherapie – Kern einer jeden Behandlung ist immer das direkte, unmittelbare Erleben des Pferdes. Sein weiches Fell, sein Geruch, seine Körperwärme, die schwingenden Bewegungen seines Rückens, wenn der Patient aufgesessen ist - all‘ das sind Erlebnisse, die im weiteren Behandlungsprozess ganz Erstaunliches bewirken können.

Verblüffende Ergebnisse

Ich habe beispielsweise ein autistisches Mädchen kennengelernt, das sich seiner Umwelt komplett verschlossen hatte. War sie aber für die Dauer ihrer Behandlung auf dem Pferd, öffnete sie sich, und die Krankengymnastinnen an ihrer Seite konnten gut mit ihr kommunizieren. Oder eine junge Frau, die unter dauerhaften, spastischen Verkrampfungen ihrer Muskulatur litt und auf den Rollstuhl angewiesen war. Auf dem Pferd war es ihr aber möglich, sich zu entspannen und ihre Muskeln lockerzulassen. 

Um dem Patienten das ganzheitliche Erfahren des Pferdes zu ermöglichen, verzichten die Krankengymnasten beim therapeutischen Reiten in der Regel auf den Einsatz eines Sattels. Stattdessen kommt eine gepolsterte Schabracke zum Einsatz. Dadurch wird das körperliche Erleben, die Körperwärme des Pferdes und die Bewegungen und Schwingungen des Pferderückens für den Patienten ganz unmittelbar erfahrbar. Ein spezieller Haltegurt mit zwei stabilen Griffen gibt Sicherheit.

Menschen, die aufgrund ihrer Behinderung in ihrem Alltag beständig auf die Hilfe und Unterstützung von anderen angewiesen sind, erfahren durch den Kontakt mit den Pferden zudem, dass sie auf dem Pferderücken auch mal sprichwörtlich „auf dem hohen Ross“ sitzen und somit in gewisser Weise über ihrer Umwelt stehen können. Dürfen sie dann auch mal die Zügel in die Hand nehmen, ist das Glück für den Moment perfekt. „Lass‘ es mich tun, und ich verstehe es“.

Feines Gespür für Menschen

Auch wenn sie Menschen gegenüber grundsätzlich vorbehaltlos begegnen, so haben Pferde doch ein sehr feines Gespür dafür, was es mit der betreffenden Person auf sich hat. Aus meiner Zeit als Pferdeführer bei der Interessengemeinschaft Therapeutisches Reiten e.V. in Marburg erinnere ich mich zum Beispiel noch sehr gut an Tobi, einen Lipizzaner-Wallach, der genau wusste, mit wem er wie umspringen konnte. Setzte sich ein sicherer, erfahrener Reiter auf seinen Rücken, konnte Tobi, vor allem im Gelände, schon mal sehr speziell reagieren und seinen Reiter arg fordern, gemäß seinem Motto „Ob Du reiten kannst oder nicht, das entscheide ich schon selbst“. Wurde aber ein Kind mit schweren Handicaps auf seinen Rücken gesetzt, verwandelte sich Tobi in das liebste und sicherste Pferd weit und breit.

Lange Ausbildung

Eine prägende Persönlichkeit, die den Gedanken des therapeutischen Reitens weit nach vorne gebracht hat, war der Pfarrer Gottfried von Dietze, der Vater der bekannten Trainerin und Ausbilderin Susanne von Dietze. Weithin bekannt als der „reitende Pfarrer vom Vogelsberg“ war von Dietze der erste Vorsitzende des 1970 gegründeten Deutschen Kuratoriums für therapeutisches Reiten (DKThR). Er wusste um das Potenzial der Pferde bei ihrem Einsatz in der Arbeit mit Menschen, die unter einem körperlichen oder seelischen Handycap leiden, und begann schon in den 1960er Jahren, Pferde entsprechend auszubilden.

Die Schulung eines Pferdes zum verlässlichen Therapiepferd kann je nach Veranlagung des Vierbeiners eine recht langwierige Angelegenheit sein. Und nicht jedes Pferd eignet sich als Therapeut. Sehr häufig kommen Ponys und Kleinpferde zum Einsatz, weil sie schon aufgrund ihrer Körpergröße und ihres knuffigen Erscheinungsbildes, anders als ein imposanter, respekteinflößender „Großer“, Vertrauen bei den Patienten wecken und Berührungsängste abbauen können. Bei Therapiepferden wird zudem „Gelassenheit“ ganz großgeschrieben. Pferde, die ein unsicheres, hektisches Wesen haben und schnell „auf hundertachzig“ sind, eignen sich grundsätzlich nicht als Therapiepferd.

Da gerade Menschen mit mehrfachen Behinderungen oft Probleme mit ihrer Koordination und ihrer Körperbalance haben, muss ein angehendes Therapiepferd natürlich auch lernen, auch mal einen Knuff oder eine hektische Bewegung abzukönnen und einen unausbalancierten Reiter auf seinem Rücken verlässlich zu dulden. Die Schulung der Balance des Pferdes ist daher ein ganz elementarer Bestandteil der Ausbildung.

Wichtige „Work-life-balance“

Damit ein Therapiepferd lange Spaß an seiner Arbeit hat, braucht es immer wieder einen Ausgleich. Dazu zählt regelmäßiger, ausgiebiger Weidegang ebenso wie eine intakte Herdengemeinschaft mit den vierbeinigen „Arbeitskollegen“ im Stall. Regelmäßige Ausritte ins Gelände bieten Abwechslung, und schulen gleichzeitig die Körperkraft, Balance und Kondition des Pferdes. Und somit genau das, was es für seinen anspruchsvollen Job braucht.

Abwechslung vom Therapiealltag ist für die Pferde vor allem deshalb so wichtig, weil ihre Arbeit ein Höchstmaß an Konzentration und Ausgeglichenheit erfordert. Was für Außenstehende wie ein gemütlich vor sich hin trottendes Pony wirkt, ist in Wahrheit ein hartes Stück Arbeit für das Tier. Mehr, als es den Anschein hat. Wenn sich dann aber die Patienten beim Abschied von „ihrem“ Pony schon begeistert auf ihre nächste „Reitstunde“ freuen, haben die vierbeinigen Profis viel erreicht und einen echt tollen Job gemacht.

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